Arben Coli

Interview von Albin Kurti von 2012 aktuell wie nie. Für EURACTIV, Vjollca Hajdari.

In Kürze wird die Vereidigung des designierten Premierministers der Republik Kosovo, Albin Kurti, erwartet. Anbei möchte ich Ihnen ein am 17.02.2012 erschienenes Interview in Erinnerung bringen, welches von der Journalistin Vjollca Hajdari für das Online-Magazin Euractiv geführt wurde.

Der von Albin Kurti vor sieben Jahren wiedergegebene Inhalt ist gemessen an den aktuellen Äußerungen immer noch sehr aktuell.

Viel Spaß beim Lesen:

 

INTERVIEW MIT ALBIN KURTI FÜR EURACTIV.DE

Albin Kurti: Kosovo ist kein normales Land

Interview mit dem Führer der „Selbstbestimmung“Heute (17. Februar 2012) ist der vierte Unabhängigkeitstag Kosovos. Im Interview mit EURACTIV.de meint Albin Kurti, Führer der oppositionellen Bewegung „Selbstbestimmung“, das Regime richte sich gegen das Volk, der Machtapparat sei ein Volksfeind.

Zur Person

Albin Kurti, geboren am 24. März 1975 in Prishtina, ist der Führer der "Bewegung für Selbstbestimmung" (albanisch: Vetevendosje), die sich erstmals bei den Parlamentswahlen in Kosovo 2010/2011 als politische Partei beteiligte und mit 14 Parlamentssitzen die drittstärkste Fraktion darstellt. In den neunziger Jahren war Kurti der Führer der albanischen Studentenbewegung in Kosovo. Während des Krieges wurde er in Serbien inhaftiert. Er wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach internationalem Druck im Jahr 2001 aus serbischer Haft entlassen.

 

EURACTIV.de: Kurz nach den Protesten in Kosovo und kurz vor dem vierten Jahrestag der Unabhängigkeit haben Sie Deutschland besucht. Was war das Ziel Ihres Besuches, was wurde besprochen?

KURTI: Unser Besuch in Deutschland hatte das Zusammentreffen mit den Landsleuten zum Ziel, um mehr über deren Leben und ihre alltäglichen Probleme zu erfahren. Wir haben durch unsere Einladungen fast jeden Sommer Treffen und Diskussionsrunden in Kosovo organisiert. Gleichzeitig ist Deutschland ein Land, das Kosovo geholfen hat und es weiterhin unterstützt. So nutzten wir die Gelegenheit, uns mit den deutschen Behörden, Politikern und Nichtregierungsorganisationen zu treffen.

EURACTIV.de: Wie wurden Sie von der deutschen Seite empfangen? Und wie von Ihren Landsleuten in Deutschland?

KURTI: Wir führten sehr freundschaftliche Treffen, unter anderem mit dem Auswärtigen Amt. Wir stellten unser Grundsatzprogramm der Selbstbestimmungsbewegung (Vetëvendosje) vor und führten sehr offene Gespräche über die Lage im Kosovo. Gleichzeitig drückten wir unsere Besorgnis über die Verhandlungen mit Serbien aus.

In den Treffen mit unseren Landsleuten sprachen wir über die Hilfe, die Kosovo den Migranten anbieten kann, aber auch über die Unterstützung der albanischen Diaspora bei der Entwicklung des Landes – angefangen von der Rückkehr der ausgebildeten Kräfte, die sich für den Fortschritt des Landes einsetzen würden, bis hin zu den Erleichterungen der Investitionsmöglichkeiten.

Auf die Diaspora des Landes legt die "Selbstbestimmung" in ihrem Programm besonderen Wert. Es gibt für die Diaspora drei wesentliche zu erfüllende Ansprüche: Die Re-Integrierung, die doppelte Staatsbürgerschaft und das freie Wahlrecht.

Es gibt aber auch drei Bereiche, in denen Diaspora-Investitionen in Kosovo erleichtert werden: das Steuer-, Bank- und Verwaltungswesen. Gleichzeitig engagiert sich die Selbstbestimmungsbewegung für die weltweite Förderung und Unterstützung der Organisation der Diaspora. Dadurch erhält die Diaspora politisches Gewicht, um ihre Rechte wahrnehmen.

EURACTIV.de: Werden Sie die Proteste, die von der "Selbstbestimmung" angeführt wurden, fortsetzen? Was werden die nächsten Forderungen sein?

KURTI: Das Regime in Kosovo richtet sich gegen das Volk. Die für das Allgemeininteresse schädlichen Taten machen das Regime zum Volksgegner, denn es führt Verhandlungen mit Serbien gegen den Willen des Volkes.

Ferner betreibt es Geschäfte mit unserem öffentlichen Eigentum und Reichtum. Dieser Machtapparat ist ein Volksgegner, denn er erhält nicht die Stimmen des Volkes.

Trotz massiven Wahlbetrugs bei den letzten Wahlen stellt die Parlamentsmehrheit  im Kosovoparlament die Minderheit dar. Die Staatsmacht hat die Wahlen manipuliert, um das Staatseigentum für sich zu gewinnen und gleichzeitig Kosovo in Verhandlungen mit Serbien zu drängen. Dadurch kann die Staatsmacht aufrechterhalten werden.

Diese Staatsmacht erstickt das politische Handeln, indem sie das Kosovo-Parlament als entscheidenden Entscheidungsträger umgeht. Durch die geheimen Abkommen verachtet die Regierungsmacht das Parlament vor den Augen des Publikums. Es sei an die letzte Resolution, aber auch in die Art der Präsidentenwahl erinnert. Die Zahl der Diktaturen verwandelt sich in Oligarchien. Auf der anderen Seite haben wir die Selbstbestimmungsbewegung, die in die entgegengesetzte Richtung zieht, also vom Parlament aus in Richtung Volk, nämlich zur direkten Demokratie versus der konsensuellen Oligarchie.

EURACTIV.de: Wie bewerten Sie die gewaltsame Vorgehensweise der Polizei und die politische Haltung bezogen auf die Proteste?

KURTI: Die Polizeigewalt wurde schon im Vorfeld des 14. Januar geplant. Diese Gewalt war die Nachwirkung der skandalösen Äußerungen von Thaçi und einigen in Prishtina tätigen diplomatischen Vertreter. Ihre Äußerungen, welche mit einem unerklärbaren Hasstenor dem friedlichen Protest gegenüber standen, waren eine Art Rechtfertigung für die anstehende Gewalt zur Unterdrückung des Protestes. Der Polizei von Kosovo muss stets vor Augen geführt werden, dass sie an erster Stelle ihre Position als die Polizei von Kosovo wahrnimmt und nicht eine Polizei der Regierung von Kosovo darstellt.

Ein ungerechter und diskriminierender Machtapparat ist an sich gewalttätig. Die brutale Manifestation der Gewalt stellt keine Ausnahme dar, von der wir im Normalfall Angst haben müssten.

Paradoxerweise schafft es die Ausführung der Gewalt nicht mehr, das Instrument der Machterhaltung dieses Regimes zu sein. Und dies zeigt uns, dass diese Art der Propagandagewalt bei weitem nicht mehr funktioniert. Sie hindert uns daran, den wahren unrechtsmäßigen Charakter, also die gewalttätige Macht, zu erkennen. Auch die verschiedenen Schikanen sowie die Erpressungen, uns von den Protesten abzuhalten, sind gescheitert. Das bedeutet, dass dem Staatsapparat immer mehr die Druckmittel ausgehen.  

EURACTIV.de: Auch Abgeordnete, die an Protesten teilgenommen haben, fielen der Gewaltausübung zum Opfer – trotz der politischen Immunität. 

KURTI: Erstens ist selbst Kosovo kein normales Land. Jeden Tag  nimmt Kosovo zunehmend den Charakter eines polizeilichen Staates ein. Wenn Proteste überall stattfinden, aber die Staatsmacht stets "im Namen der Sicherheit, Ordnung und Gesetze" mit Gewalt antwortet, dann beduetet dies, dass mit diesem Land etwas nicht stimmt.

Tatsache ist aber, dass Prozesse und Entscheidungen (welche in Form der Gesetze und Ordnung erscheinen) Kosovo und dem Volk aufgezwungen werden. Das Rechtssystem in Kosovo ist ungerecht.

EURACTIV.de: Wie stehen Ihre momentanen Beziehungen zu der Regierung und zu den anderen Parteien? Wie bewerten Sie die politische Entwicklung im Verhältnis zu den anderen Parteien?

KURTI: Die "Selbstbestimmung" steht der Kosovo-Regierung kritisch gegenüber, denn wir sind der Auffassung, dass ihre Politik für das Land großen Schaden verursacht. Mit anderen Oppositionsparteien findet eine sporadische Zusammenarbeit statt, sofern diese in Übereinstimmung mit unseren politischen Programmen steht. Ich muss allerdings betonen, dass unser Programm sich stark von den anderen Programminhalten unterscheidet.

EURACTIV.de: Wie kommentieren Sie die Lage im Norden Kosovos und die dortige recht passive Rolle der internationalen Kräfte und der verhältnismäßig hohen verschwenderischen Kosten des EULEX? 

KURTI: Nur durch unabhängige Institutionen im Kosovo können Recht und Souveränität erreicht werden. Das Konzept der EULEX-Mission sind das Krisenmanagement und die Wahrung der Stabilität, aber nicht die Gerechtigkeit.

Die aktuelle Lage im Norden ist viel schlimmer als vor der zur Hälfte abgebrochenen Intervention Thaçis. Es ist offensichtlich, dass der Eingriff nicht der Ruhe und Ordnung im Norden dienen sollte. Die Parallelstrukturen im Norden – nachdem sie Thaçi gestärkt hatte –, haben sich zementiert sowie verbarrikadiert und die Lage umso mehr verschlechtert. Durch die weiteren Entwicklungen der Ereignisse erhält der Eingriff eine neue Bedeutung. Dieser Eingriff und der sofortige Rückzug werden oft als Vorwand für eine weitere Blockade verwendet. Demzufolge ist ein wirklicher Eingriff ausgeschlossen. Der gescheiterte Eingriff dient als Rechtfertigung für die künftigen Verhandlungen, bezogen auf die Erlangung eines Sonderstatus als einzige reelle Lösung.  

Botschafter als Kolonialherren

EURACTIV.de: Wie bewerten Sie generell die Präsenz der internationalen Kräfte und das politische Klima, das sie Kosovo entgegenbringen?

KURTI: Die "Selbstbestimmung" engagiert sich für das Pflegen freundschaftlicher Beziehungen mit den Ländern, die Kosovo anerkannt haben. Andererseits gibt es einige Auslandsvertreter und Diplomaten, die ihren Kompetenzbereich sprengen. Einige Äußerungen und Erklärungen entsprechen nicht ihrem diplomatischem Charakter. Diese Vorgehensweise entspricht nicht dem Profil des Botschafters eines souveränen Landes. Die Botschafter in Prishtina müssen sich wie richtige Botschafter verhalten und sich von den Kolonialgouverneuren deutlich unterscheiden.

EURACTIV.de: Betreffend Vereinigung Kosovos mit Albanien gelten Sie als einer der offensivsten Politiker. Wie erklären Sie die letzten Entwicklungen? In welche Richtung bewegt sich Kosovo? 

KURTI: Es existieren zwei Kosovos. Kosovo als der freie politische Wille der Bürger und Kosovo als die Unterdrückungspolitik, geführt durch die Regierung des Landes. Wir von der "Selbstbestimmung" gehen von dem Willen des Bürgers aus. Es liegt in der Hand der Bürger innerhalb und außerhalb der Grenze, durch eine Volksabstimmung über eine Vereinigung zu entscheiden. Solch eine Abstimmung ist in Kosovo verfassungsmäßig nicht erlaubt. Doch die Umfragen signalisieren eine Pro-Haltung. Das Ergebnis steht also fest – und aus diesem Grund wird eine Volksabstimmung untersagt.

EURACTIV.de: Der Sonderbeauftragte der EU-Mission, Peter Feith, ließ bei einem Treffen in Wien verlauten, dass die Überwachung der Unabhängigkeit Kosovos im Jahr 2012 beendet wird. Auf der anderen Seite wird Plan des UN-Gesandten Martti Ahtisaari nach wie vor hervorgehoben und auf eine "sehr weitreichende Dezentralisierung" hin gearbeitet.Wie bewerten Sie diesen Prozess?

KURTI: Es muss erstens klargestellt werden, dass der Abzug des Zivilen Internationalen Büros nicht das Beenden der ganzen internationalen Überwachung in Kosovo bedeutet. EULEX wird weiterhin ihre exekutive Zuständigkeit in Kosovo ausüben, so wie auch die UNMIK, die Mission der Vereinten Nationen zur Übergangsverwaltung des Kosovo, die weiterhin in Kosovo präsent sein wird.

Selbst solch ein Verhältnis, welches dafür sorgt, dass ein Überwacher uns beobachtet und dazu befugt ist, über Fehler und korrektes oder nicht korrektes Verhalten zu urteilen, stellt ein Gewaltverhältnis dar. Bezogen dazu, gibt es hier zwei Arten von Überwachungbeendigung: die Widerstandsart, welche diese Art von Verhältnis nicht hinnimmt. Als solche, möchte sie sich von den Prangern befreien. Dann gibt es die andere Art der freiwilligen Beendigung. Diese findet gerade dann statt, wenn die Überwachnugsphase bereits vollzogen ist und somit auch keine Gefahr des Widerstandes besteht. Da inzwischen der Großteil des Ahtisariplans umgesetzt worden ist, vollzieht sich von alleine die Beendigung der Unabhängigkeitsüberwachung. Kosovo wird sich demnach auf eine Art und Weise selbst überwachen.   

EURACTIV.de: Sie waren einer der umstrittensten Aktivisten und sind gleichzeitig einer der populärsten Politiker, insbesondere bei der Jugend. Wie sieht das Konzept der "Selbstbestimmung" aus? Wo liegen die Unterschiede zu den anderen Parteien?

KURTI: Die "Selbstbestimmung" verfügt über ihr eigenes politisches Programm. Darin steht unsere prinzipielle Haltung gegenüber der verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die Kosovo betreffen. Sehr bald wird aus diesen Programmgrundsätzen auch unser Regierungsprogramm entstehen.

Wir unterscheiden uns durch das politische und durch das wirtschaftliche Programm. Es geht hierbei um ein Gleichheitsprogramm, das Kosovo zu einem gleichwertigen und souveränen Staat darstellt. Unser Ziel richtet sich ferner darauf, wirtschaftliche Souveränität zu erlangen. Außerdem begnügen wir uns nicht mit einer repräsentativen Demokratie. Wir wollen schließlich, dass das Volk ein regelmäßiger, aktiver Teilnehmer des politischen Lebens wird. Ferner begnügen wir uns nicht mit einer Unabhängigkeit ohne Souveränität.

Interview: Vjollca Hajdari für EurActiv.de

 

Das Interview ist auch online in deutscher Sprache zu lesen unter:
https://www.euractiv.de/section/erweiterung-und-nachbarn/interview/albin-kurti-kosovo-ist-kein-normales-land/

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